Ein Märchen

Von Sonja Jochum

„Zu allen Zeiten erzählten sich Menschen Märchen von tapferen Männern und Frauen, von wundersamen Wesen, Herausforderungen, bedeutsamen Begegnungen, Heilung und Erfüllung. Durch mündliche Überlieferung veränderten die Geschichten ihren Inhalt; und behielten dennoch stets ihre sinnstiftende Aussage und ihre wahre Grundlage. So wie dieses Märchen:
Vor langer Zeit, in einer vergessenen Stadt namens Shiraz, lebten zehn außergewöhnliche Frauen, die von den Menschen der Stadt nur als die „10 Bahá’í-Frauen“ bekannt waren. Sie waren Anhängerinnen einer bahnbrechenden Religion, die für ihre Botschaft der Einheit, Gleichheit und Liebe bekannt war. Doch in dieser dunklen Zeit war ihre Glaubensrichtung verboten und ihre Lehren wurden von den Machthabern der Stadt als Bedrohung angesehen.
Die zehn Bahá’í-Frauen waren jedoch fest in ihrem Glauben verankert und ließen sich nicht von der Unterdrückung abschrecken. Sie kamen heimlich zusammen, um ihre Gebete zu rezitieren und sich gegenseitig zu stärken. In den Schatten der Nacht fanden sie Zuflucht in einem verborgenen Raum, der von den Augen der Welt verborgen blieb.
Als die Behörden von Shiraz von diesen geheimen Versammlungen erfuhren, gerieten sie in Wut und beschlossen, ein Exempel zu statuieren. Sie verurteilten die zehn Frauen zum Tod und planten ihre öffentliche Hinrichtung. Das Schicksal der Frauen war besiegelt, doch ihre geistige Stärke und Entschlossenheit waren ungebrochen.
In jener Nacht, bevor die Frauen hingerichtet werden sollten, kam ein mysteriöser Fremder zu ihnen. Er war von geheimnisvoller Erscheinung, mit einem langen, weißen Bart und leuchtenden Augen. Mit seinem hohen Hut, gleich einer Sikke, sah er einem Derwisch ähnlich. Mit gütigen Augen sah er die Frauen an und sagte, wie sehr er die Reinheit ihrer Seelen und ihren Glauben spürte. Und er bot ihnen einen Ausweg aus ihrem düsteren Schicksal an, denn er sei die Herrlichkeit Gottes und bringe Gnade für die ganze Menschheit – wieviel mehr noch für diese getreuen Seelen, die so unerschütterlich in ihrem Glauben seien.
Voller Ehrfurcht, aber auch erfüllt von einem ungekannten, unermesslichen Gefühl überschwenglicher Liebe, schauten die Frauen auf die würdevolle Gestalt dieses strahlenden Gastes in ihrem tristen Gefängnis; und alle Furcht und Besorgnis löste sich auf.
Ihre Gesichter verwandelten sich, sie zeigten pure Freude, Liebe und Dankbarkeit, die sich noch steigerte, als die Herrlichkeit Gottes den Frauen ein Ritual enthülte, das es ihnen ermöglichen würde, ihren physischen Körper zu verlassen und in eine spirituelle Sphäre einzutreten. Dort wären sie vor den irdischen Gefahren geschützt und könnten ihre Mission der Einheit und Liebe fortsetzen. Zwar sei der Preis für diese Rettung hoch, denn jede Frau musste ihre materielle Existenz opfern und einen ewigen Zustand der Transzendenz akzeptieren. Doch gab es für keine von ihnen irgendeinen Vorbehalt oder Einwand. Denn ihr Gast erläuterte ihnen das Ritual, bei dem es sich um ein vor 100 Jahren enthülltes Gebet handelte, das er in Bayt-i-Fanduq, im heiligen Land offenbart hatte. Welche Kraft sprach aus diesem Gebet, welche Hoffnung und welches Versprechen!
Keine der Frauen zögerte, denn sie erkannten, dass dies ihre einzige Chance war, ihre Lehren weiterzugeben und das Licht der Wahrheit am Brennen zu halten. Daher stimmten sie dem Vorschlag der Herrlichkeit Gottes zu und versanken in das Gebet.
Die Nacht der Hinrichtung kam, und die Menschenmassen versammelten sich, um das erbärmliche Schauspiel zu sehen. Als die Frauen auf der Bühne geführt wurden, geschah etwas Unerwartetes. Ein helles Leuchten ließ ihre Körper erstrahlen und als eine nach dem anderen von ihrem Henker getötet wurde, stieg ihre Aura für alle sichtbar langsam in die Lüfte auf. Alle 10 Frauen verwandelten sich in strahlende Lichtwesen. Die Menge erstarrte vor Erstaunen, als sie das göttliche Glühen sahen, das von den schwebenden Gestalten ausging.
Die zehn Bahá’í-Frauen schwebten über den Köpfen der Menschen und begannen, in sanften Tönen zu singen. Die Worte ihrer Lieder füllten die Luft und berührten die Herzen der Anwesenden. Sie erzählten von Einheit, Liebe und der ewigen Suche nach der Wahrheit. Die Menschen spürten die göttliche Präsenz und das Verständnis, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Religion, ihrer Kultur oder ihrer Hautfarbe eins sind.
In jener Nacht wurde Shiraz von einer Welle der spirituellen Erleuchtung erfasst. Die Menschen erkannten den Wert des Glaubens an die Einheit und begannen, ihre Herzen zu öffnen. Die Stadt wurde zu einem Symbol der Toleranz und des Respekts. Auch wenn die Regierenden alles versuchten, um ihre Macht zu erhalten, so war jedem klar, dass ihnen dies nicht auf Dauer gelingen würde. Denn Liebe ist Licht, wo immer sie wohnt, und Hass ist Finsternis, wo immer er nistet.
Die zehn Bahá’í-Frauen fanden ihre Erfüllung in der Transzendenz und wurden zu leuchtenden Sternen am Himmel. Ihre spirituelle Präsenz wird bis heute in den Herzen und Seelen der Menschen gespürt, die von ihrer Geschichte gehört haben. Sie erinnern uns daran, dass die Macht der Liebe und der Einheit selbst die dunkelsten Zeiten überdauert und dass wahre Freiheit im Geist zu finden ist, unabhängig von den Umständen der Welt.
So versprach es die Herrlichkeit Gottes, Bahá’u‘lláh“