In voller Partnerschaft: Frauenförderung als Voraussetzung für friedliche Gesellschaften
New York – 20. Februar 2025
Das Ende des 20. Jahrhunderts war ein Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte. Nach Jahrhunderten der Anstrengung wurden die Rechte der Frauen als Menschenrechte anerkannt. Auch wurden bedeutende Fortschritte dabei gemacht, politische Vereinbarungen in Gesetze und Praktiken umzusetzen. Diese Fortschritte gipfelten in der bahnbrechenden Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking – ein Anlass, den wir dreißig Jahre später würdigen.
Besonders hervorzuheben ist, dass die Konferenz ein weitverbreitetes Bekenntnis zum Grundprinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter darstellte. Sie zog rund 50.000 Delegierte von Regierungen, UN-Organisationen und aus der Zivilgesellschaft an. Vertreter der Bahá’í International Community (BIC) arbeiteten in diesem entscheidenden Moment mit diesen Akteuren zusammen – wie schon bei den vorangegangenen Konferenzen in Mexiko-Stadt, Kopenhagen und Nairobi. Vertreter der BIC haben seitdem die Entwicklung der internationalen Landschaft der Frauenförderung miterlebt und arbeiten weiterhin eng mit denjenigen zusammen, die sich aktiv für die gewünschten Ergebnisse der Konferenz einsetzen.
Die Förderung der Frauen ist eine Voraussetzung für friedliche und prosperierende Gesellschaften. Dieses Ziel muss erreicht werden, wenn wir eine harmonische Zukunft schaffen wollen, die über die Beendigung der Gewalt hinausgeht. Die in Peking formulierten 12 kritischen Problembereiche, die die volle Entwicklung der Frauen und ihre Gleichberechtigung mit Männern unterstützen sollen, müssen jedoch noch immer angemessen angegangen werden. Hart erkämpfte Errungenschaften erodieren, während patriarchalische Normen, die in den Systemen und Strukturen der Gesellschaften verankert sind, wieder aufleben – mit schädlichen Auswirkungen für Frauen und Männer gleichermaßen. Tatsächlich hat die Geschichte gezeigt, dass institutionelle Reformen fragil und anfällig für Macht- und Prioritätenverschiebungen bleiben, wenn sie nicht von einer nachhaltigeren Veränderung der individuellen Denkweisen und gesellschaftlichen Normen begleitet werden.
Dieser Jahrestag bietet also die Gelegenheit, Erkenntnisse aus Gemeinschaften zu gewinnen, die lernen, gesündere und integrativere Dynamiken zu kultivieren, angefangen im eigenen Zuhause – wo viele gesellschaftliche Überzeugungen und Einstellungen oft ihren Ursprung haben – über die Nachbarschaften und Dörfer bis hin zur Entstehung gerechter Systeme und Praktiken. Das durch diese Erfahrungen gewonnene Wissen bietet wertvolle Lehren, die auch auf internationaler Ebene Anwendung finden müssen. Denn letztlich erfordert die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Geschlechter eine universelle Beteiligung. Sie erfordert die proaktive Beteiligung jedes Segments jeder Bevölkerung, die Schulter an Schulter und in voller Partnerschaft zusammenarbeiten.
***
Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist nicht nur ein Ziel, das die Menschheit erreichen möchte, sondern auch eine notwendige Voraussetzung für Frieden und Wohlstand. In Gesellschaften mit einem höheren Grad an Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern kommt es tendenziell weniger zu gewaltsamen Konflikten. Ebenso ist es allgemein anerkannt, dass Friedensprozesse, an denen mehr Frauen beteiligt sind, tendenziell länger dauern.
Die Nichtanerkennung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern behindert letztlich die materielle, soziale und spirituelle Entfaltung jedes Einzelnen. Frauen sind jedoch häufiger Opfer von Missbrauch, Vorurteilen und Diskriminierung und werden daher auch häufiger von Räumen ausgeschlossen, die diese Verstöße bekämpfen sollen. Wenn die Menschheit die systemische Natur dieser Herausforderungen vollständig verstehen und überwinden will, muss die reiche Vielfalt menschlicher Erfahrungen in ihrer Gesamtheit genutzt werden. Daher müssen Barrieren beseitigt werden, die Frauen daran hindern, ihr Wissen zur Suche nach wirksamen Lösungen beizutragen.
In Entscheidungsgremien müssen unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt werden, aber man muss darauf achten, dass es nicht zu einer symbolischen Repräsentation kommt. Vorurteilsvolle Einstellungen können sowohl von Frauen als auch von Männern vertreten werden; daher ist ein normativer Wandel notwendig. Patriarchale Tendenzen und eigennützige Ambitionen müssen in allen Umgebungen durch Qualitäten wie Zusammenarbeit, Gegenseitigkeit, Mitgefühl und eine bescheidene Lernhaltung ersetzt werden. Solange sich der Wandel nicht in der Denkweise festsetzt und in der Kultur Ausdruck findet, werden die zugrunde liegenden Ursachen von Vorurteilen und Diskriminierung, die in den Systemen und Strukturen der Gesellschaften verankert sind, unhinterfragt bleiben und weiterhin Ungerechtigkeit aufrechterhalten.
***
Wie könnte es in der Praxis aussehen, wenn sich die Bevölkerungen dem Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter als Grundlage für friedliche Gesellschaften verschreiben? Die Bahá’í-Gemeinden ihrerseits arbeiten daran, alte Glaubenssätze und Praktiken zu ändern, die dem Prinzip der Gleichberechtigung zuwiderlaufen. In Bereichen, in denen ihre Bemühungen systematischer geworden sind, beobachten diese Gemeinschaften dramatische und tiefgreifende Veränderungen in der Art und Weise, wie Frauen in ihren Gesellschaften wahrgenommen werden. Diese veränderten Wahrnehmungen führen zu einem höheren Maß an Inklusivität und Gleichberechtigung und bieten Frauen mehr Möglichkeiten, Führungsrollen zu übernehmen und zu gesellschaftlichem Wandel beizutragen.
Natürlich haben diese Gemeinschaften immer noch mit jahrhundertealten Systemen und Bräuchen zu kämpfen, die historisch gesehen einen ungerechten Status quo aufrechterhalten haben. Aber was ihre Erfahrungen auszeichnet, ist die Herangehensweise an sozialen Wandel: Die Mittel für einen konstruktiven sozialen Wandel müssen mit seinen Zielen im Einklang stehen. Zu dieser Herangehensweise gehört eine Reihe von Bildungsinitiativen, die darauf abzielen, die Fähigkeit der Einzelnen zu entwickeln, gemeinsam mit ihren Familienangehörigen, Nachbarn, Freunden und Kollegen moralische und spirituelle Werte wie Einheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Vertrauenswürdigkeit in ihrem persönlichen Leben und in ihrem sozialen Umfeld anzuwenden. Dieser Bildungsprozess, der während des gesamten Lebenszyklus des Einzelnen angeboten wird, wird durch ein globales Koordinierungssystem geleitet und unterstützt und von den örtlichen Bevölkerungen entsprechend ihren spezifischen Umständen und Ressourcen umgesetzt.
Im indischen Bundesstaat Bihar beispielsweise führten diese Bildungsprogramme(link is external) dazu, dass Gruppen über das spirituelle Prinzip nachdachten, dass jeder Mensch von Natur aus edel ist, unabhängig vom Geschlecht. Je länger sie an diesen Programmen teilnahmen, desto schwieriger wurde es, soziale Praktiken zu übersehen, die diesem Prinzip widersprachen. Die Teilnehmer – sowohl Frauen als auch Männer – begannen, schädliche Trends in ihren Dörfern zu erkennen und überlegten, wie sie auf die Tatsache reagieren sollten, dass Frauen in vielen Bereichen, wie etwa bei der Weiterbildung und der Beteiligung an Entscheidungsprozessen, behindert wurden.
Die Bahá’í-Gemeinde beschloss, Beratungsräume für Familien einzurichten, um die tieferen Ursachen dieser Probleme zu untersuchen und mögliche Lösungswege zu finden. Die Teilnehmer tauschten Erfahrungen aus und erkundeten durch mutige Überlegungen die unbequeme Wahrheit, dass Mädchen und Frauen in ihren Gesellschaften nicht als grundsätzlich gleich angesehen werden und daher nicht die gleichen Chancen haben wie Jungen und Männer.
Es wurde deutlich, dass diese ungerechte Realität durch zahlreiche Erwartungen, Annahmen und Ängste verstärkt wurde – beispielsweise, dass es das Schicksal einer Tochter sei, verheiratet zu werden, dass Frauen während der Menstruation als „unrein“ gelten oder dass es für Mädchen gefährlich sei, weite Schulwege zurückzulegen. Diese Einstellungen fanden auf viele schädliche Arten Ausdruck. Jungen wurden oft bevorzugt, wenn entschieden wurde, welches Kind zur Schule geschickt wurde, finanzielle Mittel wurden eher für die Mitgift als für die berufliche Entwicklung einer Tochter verwendet und Frauen, die als „unrein“ angesehen wurden, wurde der Zutritt zu bestimmten Einrichtungen verwehrt, was ihre Beteiligung an Entscheidungsprozessen oder Führungsrollen verhinderte.
Die verbesserte Fähigkeit, die Erscheinungsformen der Ungleichheit zu analysieren, war ein wichtiger Motor für den kulturellen Wandel innerhalb der Gemeinschaft. Viele Jungen und Männer begannen, lange gehegte Überzeugungen offen in Frage zu stellen und zu untersuchen, wie ihre Mütter, Schwestern, Frauen und Töchter davon betroffen waren. Es wurde klar, dass dies nicht nur eine Herausforderung für Frauen war; die ganze Gemeinschaft war betroffen und dies erforderte universelles Handeln.
Die Teilnehmer haben seitdem gemeinsam daran gearbeitet, die von ihnen identifizierten Hindernisse zu beseitigen. Gemeinsam haben sie neue Bildungsangebote geschaffen, die die moralische und intellektuelle Entwicklung jedes Kindes in den Vordergrund stellen, und sich für mehr Sicherheit in ihren Dörfern eingesetzt. Sie haben darüber nachgedacht, wie die Denkweisen der Einzelnen weiterhin mit dem Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter in Einklang gebracht werden können, und haben so zur Entwicklung einer neuen Kultur beigetragen. Viele Teilnehmer haben kommentiert, wie diese Beratungsräume in Verbindung mit den oben beschriebenen Bildungsbemühungen der Gemeinschaft zu einem Anstieg des gegenseitigen Respekts zwischen Frauen und Männern in ihren Dörfern beigetragen haben. Viele haben ein stärkeres Gefühl von Vertrauen, gemeinsamer Sache, Verständnis und letztendlich Einheit wahrgenommen – zu Hause und in der Gemeinschaft. All dies sind Anzeichen für eine Entwicklung hin zu mehr Frieden.
***
Basisinitiativen liefern eine wichtige Quelle für Einblicke in die Lebenserfahrungen von Gemeinschaften, die lernen, sozialen Wandel herbeizuführen. Die UN ist – unter anderem durch das Mandat und die Netzwerke von UN Women – bestens geeignet, Erfahrungen, die die Förderung von Frauen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene fördern, herauszufiltern, zu analysieren und zu teilen und Methoden zu entwickeln, die von nationalen Regierungen umgesetzt werden können. Die Rolle der UN wird weiterhin von entscheidender Bedeutung sein, wenn es darum geht, das Bewusstsein für das Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter als grundlegende Voraussetzung für Frieden auf internationaler Ebene zu schärfen und dafür einzutreten, sowie bei der Gestaltung relevanter internationaler politischer Rahmenbedingungen. Die UN ist außerdem in einer einzigartigen Position, innerhalb ihrer eigenen internen Strukturen und Operationen eine Kultur zu modellieren, die patriarchalische Normen abbaut und Ansätze in den Mittelpunkt stellt, die integrativ und kooperativ sind.
Eine Zukunft, in der Frauen als gleichberechtigte Protagonistinnen in allen Bereichen menschlicher Bemühungen sinnvoll mitwirken können – und in der jeder Mensch, unabhängig von seinem Geschlecht, als Mitgestalter der Gesellschaft aufblühen kann – ist das Ziel, dem die Menschheit jetzt entgegenstreben muss. Das Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter ist weit mehr als nur ein Wunschtraum. Es muss jetzt von einer wachsenden Bevölkerung, ob jung oder alt, in allen Ländern der Welt angenommen werden, wenn wir eine Zukunft dauerhaften Friedens und Wohlstands herbeiführen wollen.