Tahirih – eine Wegbereiterin moderner Frauenrechte


Táhirih-getanzt von Karin Blumental


Zu Recht kann Táhirih heute als Wegbereiterin für die Frauenbewegung angesehen werden. Tatsächlich haben ihr Leben und ihr Vorbild viele Frauen und Männer in der ganzen Welt inspiriert. „Ihr könnt mich töten, aber die Befreiung der Frauen könnt Ihr nicht aufhalten.“ Dieser prophetische Satz, den Táhirih wenige Augenblicke vor ihrem Tod an ihre Mörder richtete, ist erschütternd und zugleich auch ermutigend: der Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter wird überall auf der Welt gegangen werden – offensichtlich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit: zuweilen extrem langsam, mancherorts mit Stolpersteinen oder zeitweiligen Rückschritten, vor allem aber in mutigem, unablässigem Bemühen.


Lange Zeit glaubte man im Westen, dass die moderne Frauenrechtsbewegung um etwa 1844 im Westen, in den USA, begann. Inzwischen aber erkennen sorgfältige Historiker an, dass zu den ersten Frauenrechtlerinnen auch die persische Dichterin Táhirih (1814 – 1852) zählt. Obwohl Táhirihs Lebensumstände seinerzeit bereits von einigen zeitgenössischen westlichen Iranreisen-den und Orientalisten, wie z.B. dem britischen Orientalist Edward G. Browne, aufgezeichnet worden waren, blieb die Person Táhirih in der westlichen Feminismusbewegung weitgehend unbekannt. Vielleicht machte auch die Tatsache, dass Táhirih den Impuls für ihr Wirken einer neuen, im Westen damals noch weitgehend unbekannten Religion, der Vorläuferreligion des Bahá’í-Glaubens, entnahm, die Protagonistinnen der westlichen Frauenbewegungen skeptisch. Möglicherweise ist dies aber auch einer jahrhundertelang vorherrschenden eurozentristischen Sichtweise zuzuschreiben, die es schwierig machte, eine solch begabte und mutige Frau wie Táhirih mit dem Kulturkreis, aus dem sie stammte, in Einklang zu bringen.
In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, dass im Jahre 1848 etwa gleichzeitig im Osten und im Westen zwei Konferenzen stattfanden, die für die Entwicklung der Frauenbewegung von großer Bedeutung waren. In Persien nahm Táhirih im Sommer des Jahres 1848 als einzige Frau unter 81 Männern an einer Konferenz in Badasht teil, einem Ort in Norden des Landes. Dort leg-te sie als deutliches Zeichen für die Befreiung der Frauen öffentlich ihren Schleier ab – damals eine unglaubliche Provokation! Ebenfalls im Sommer 1848 fand in den USA, in Chicago, der ers-te Frauenkongress statt. Auf diesem Kongress wurde die „Seneca Falls Declaration“ beschlossen, die sich bewusst an der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung orientierte und die Gleichberechtigung von Frau und Mann deklarierte. Die wichtigsten angestrebten Ziele der Frauenbewegung jener Zeit im Westen waren: eine Reform des Ehe- und Besitzrechtes, das Recht auf Erwerbsarbeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf aktives und passives politisches Handeln, eine Gesellschaft auf neuer sittlicher Grundlage.


Zu einer Zeit also, als die Frauenbewegung im Westen gerade damit begann, für das Wahlrecht zu kämpfen, verkündete Bahá’u’lláh, der Stifter des Bahá’í-Glaubens, eindeutig die Gleichbe-rechtigung der Geschlechter als göttliches Prinzip. Es war zum ersten Mal in der Geschichte der Weltreligionen, dass ein Religionsstifter ausdrücklich die völlige Gleichwertigkeit von Frau und Mann bestätigte und die Gleichberechtigung der Geschlechter als unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung der Menschheit als Ganzes betonte. „Solange nicht wirkliche Gleichberechti-gung zwischen Mann und Frau erreicht und fest begründet ist, kann sich die menschliche Gesell-schaft nicht zur Reife entwickeln“, heißt es in den Bahá’í–Schriften.

Inzwischen ist in weiten Teilen der Welt – wenn auch leider noch nicht überall – der Gedanke etabliert, dass die Gleichberechtigung von Frau und Mann in der Gesellschaft eine Frage von entscheidender Bedeutung für den menschlichen Fortschritt ist. Durch die Beiträge zahlreicher Einzelpersonen und Gruppen, die in unterschiedlichen sozialen Feldern rund um die Welt tätig sind, wurden im Laufe der Jahrzehnte große Fortschritte bei der Förderung dieses Prinzips er-zielt. In vielerlei Hinsicht hat sich die Stellung von Frauen und Mädchen in den letzten 50 Jahren bedeutend verbessert. Sie haben höhere Alphabetisierungsraten und Bildungsstandards er-reicht; ihr Pro-Kopf-Einkommen ist gestiegen; mehr und mehr Frauen schaffen es, in herausra-gende berufliche und politische Positionen aufzusteigen.


Darüber hinaus ist es weit verzweigten nationalen und internationalen Frauen-Netzwerken gelungen, ihre Anliegen auf die Tagesordnung globaler Institutionen zu setzen und gesetzliche und institutionelle Mechanismen zu erwirken, die sich mit diesen Anliegen befassen. Doch trotz dieser Bemühungen, Frauen die volle Gleichberechtigung gegenüber Männern zu ermöglichen, bestehen noch zahlreiche Herausforderungen.


Es wird inzwischen von vielen unserer Mitmenschen erkannt, dass die Benachteiligung von Frauen in der heutigen Gesellschaft eines von vielen Symptomen einer maroden Gesellschafts-ordnung ist. Eine Hinterfragung der Grundannahmen, auf denen unsere heutigen Gesellschafts-systeme und Weltanschauungen aufgebaut sind, ist vonnöten. Es werden tiefgreifende Verände-rungen in den Köpfen und Herzen der Menschen und in den gesellschaftlichen Strukturen erforderlich sein, um solche gesellschaftlichen Institutionen aufzubauen und Praktiken zu entwickeln, die die Gleichstellung von Frauen und Männern voranbringen und die Prinzipien der Einheit und Gerechtigkeit fördern.


Gemäß der Bahá’í-Lehre ist die Erkenntnis von der Einheit der Menschheit die grundlegende Voraussetzung für eine Neuordnung und Befriedung der Gesellschaft. Hierbei ist die Gleichbe-rechtigung der Geschlechter ein entscheidender Grundsatz. Wirklicher Fortschritt in Gesellschaft und Politik ist erst dann zu erwarten, wenn dieser Grundsatz keine hehre Idee bleibt, sondern im Denken und Handeln aller Menschen, Männer wie Frauen, akzeptiert und praktiziert wird. Daher ist es Mitgliedern der Bahá’í-Gemeinden überall auf der Welt ein Anliegen, als Einzelne, in Gruppen oder im Rahmen entsprechender Organisationen – wie z.B. dem deutschen Bahá’í-Frauen-Forum – zu lernen, wie sie konkret den Diskurs über die Gleichstellung von Frauen und Männern bereichern und so ihren Beitrag leisten können bei der Errichtung einer neuen Gesell-schaft, die von den Prinzipien der Einheit und der Gerechtigkeit geleitet ist – entsprechend dem Zitat aus den Bahá’í-Schriften: „Die Menschheit besitzt zwei Flügel, den einen bilden die Frauen, den anderen die Männer. Erst wenn beide Flügel gleichmäßig entwickelt sind, kann der Vogel flie-gen.“


Táhirihs Wirken, ihre große Entschlossenheit und ihr beispielhafter Mut können uns dabei „beflügeln“.

Ein sehr berühmtes Gedicht von Táhirih