Statement der Internationalen Bahá’í-Gemeinde zur 63. Sitzung der Frauenrechtskommission


11. – 22. März 2019

Soziale Sicherungssysteme, Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und nachhaltiger Infrastruktur für die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung von Frauen und Mädchen“.


Die Welt neu gestalten: Niemanden zurücklassen

1    Soziale Sicherung könnte bis zu einem gewissen Grad als eine Reihe von Regeln und Programmen verstanden werden, die dazu dienen, Armut und Schutzlosigkeit zu verringern. Aber eine so bedeutsame Thematik wie die, soziale Sicherung für alle zu erreichen, ‒ insbesondere für die Schutzbedürftigsten, von denen die meisten Frauen und Kinder sind ‒ muss im Licht einer höheren Wahrheit gesehen werden, nämlich: dass die ganze Menschheit eine ist und die Fülle der Ressourcen unserer gemeinsamen Heimat auch der ganzen Menschheit zugutekommen muss. Es sollte inzwischen eine längst anerkannte Tatsache sein, dass alle Menschen das Recht haben, ein Leben in Würde zu führen mit den Möglichkeiten, eine gute Bildung zu erhalten, Zugang zu Gesundheitsfürsorge zu haben, ihre geistigen Werte zu leben und ihren Beitrag zum Wohlergehen ihrer Gemeinschaften durch Arbeit, Pflege gesunder Familien und Anbieten von Diensten zu leisten.

2    Eine logische Folge der Einheit der Menschheit ist darüber hinaus, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Die zunehmende Anerkennung sowohl der Einheit als auch der Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist ein Kennzeichen der modernen Zeit – eines, das für die schrittweise Entstehung einer weltumfassenden, durch Gerechtigkeit, Gegenseitigkeit und Wohlstand charakterisierten Kultur Gutes verheißt. Nichtsdestotrotz steht die vollständige Verwirklichung von Einheit in jedem Aspekt des Lebens noch aus; zuweilen mag es sogar scheinen, als sei diese Verwirklichung unerreichbar. Dass Frauen und Mädchen von den durch die heutige Gesellschaftsordnung ausgelösten Ungerechtigkeiten häufig am härtesten getroffen werden, ist angesichts der historischen Kräfte, die diese Ordnung entstehen ließen, nicht überraschend. Während die zunehmende Akzeptanz des Prinzips der Einheit eine der größten Hinterlassenschaften des 20. Jahrhunderts war, stützen sich zahlreiche der ideologischen Fundamente der vorherrschenden Gesellschaftssysteme auf Werten, die zu dieser Einheit im Gegensatz stehen. Ausgrenzungsideale, der Glauben an die angeborene Überlegenheit einiger Gruppen über andere und Vertrauen auf Gegnerschaft als Mittel, Fortschritt zu erzielen, sind in die DNA der Gesellschaftsstrukturen eincodiert. Daraus folgt, dass das Prinzip der Einheit diesen nicht künstlich aufgepfropft werden kann; die gesellschaftlichen Systeme und Strukturen müssen vollständig umgestaltet werden, um Einheit zu verkörpern.

3          Für eine so bedeutende Körperschaft wie die Vereinten Nationen und die sie bildenden Mitgliedsstaaten lautet die entscheidende Frage, wie auf die Fähigkeiten und kollektiven Kräfte aller Völker der Welt – einschließlich und entscheidend Frauen und Mädchen – zurückgegriffen werden kann und wie diese freigesetzt werden können. Jenseits institutioneller Folgerungen verlangen die Prinzipien von Einheit und Gleichberechtigung tiefgreifende Veränderungen auf der kulturellen Ebene. Niemand ist frei von den hohen Anforderungen von Gerechtigkeit; alle sind dazu aufgerufen, ständig ihre eigenen Haltungen, Werte und Beziehungen zu anderen neu zu überprüfen.

Ökonomische Ungleichheiten angehen

4    Als Resultat gesellschaftlicher und kultureller Normen und Ungleichheiten erleben Frauen im Verlauf ihrer Lebensphasen Stadien besonderer Verletzlichkeit. In vielen Ländern ist es für Frauen weitaus wahrscheinlicher, ihr Einkommen zu verlieren und zu verarmen, als für Männer. Selbst in den wirtschaftlich am meisten entwickelten Gemeinschaften bedeuteten die reproduktiven Rollen der Frauen häufig, dass ihnen nicht die gleichen Funktionen und Verantwortlichkeiten im Erwerbsleben zugestanden werden wie ihren männlichen Kollegen. Es gibt zahlreiche Hindernisse, die Frauen und Mädchen den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen verwehren und die verhindern, dass sie aus einer starken Infrastruktur Nutzen ziehen. Regierungssysteme, die kollektive Sicherheit, Umweltverträglichkeit und eine faire und gerechte Wirtschaftsordnung fördern, sind erforderlich, um diese Hindernisse dauerhaft zu beseitigen. Angesichts der zentralen Rolle der sozialen Sicherung verdienen angemessene wirtschaftliche Vorkehrungen eine besondere Beachtung.

5    Extreme Konzentration von Wohlstand haben zu der verzerrten Wahrnehmung geführt, der Erde mangele es an ausreichenden Ressourcen für ihre Bewohner. Bei den Überlegungen, wie alle Menschen aus der Armut herausgeführt werden können, gibt es verständlicherweise die Versuchung, sich auf die Erzeugung von Wohlstand zu fokussieren. Die ausschließliche Aufmerksamkeit auf Wachstum und Einkommensgewinnung wurde sehr oft in mehr Wohlstand für jene verwandelt, die ihn nicht benötigen, und in zunehmende Entbehrungen für die, die ihn brauchen. Regelungsstrukturen, die es Wenigen erlauben, unvorstellbare Mengen materieller Ressourcen für sich und ihre Sippe anzuhäufen, dürfen nicht aufrechterhalten werden. Solange Wirtschaftsmodelle weiterhin moralische Erwägungen wie Gerechtigkeit und Vertrauenswürdigkeit missachten und ausblenden, so lange wird die weltweite Finanzinstabilität weiter zunehmen und die ganze Menschheit in Auseinandersetzungen verstrickt sein.

6    Tatsächlich sind in der ganzen Welt die Folgen von Umweltzerstörung spürbar. Trotzdem behandeln die ökonomischen Paradigmen in den meisten Industrieländern die Auswirkungen auf die Umwelt als externen Effekt. Dies führte zur Verarmung ländlicher Gemeinschaften, zur Ausbeutung schutzloser Bevölkerungsgruppen und zu einer rapiden Zerstörung der Natur. Vielversprechende neue Modelle entstehen, die wirtschaftliche Fragen im Licht globaler Grenzen betrachten. Diese Modelle sollten sowohl hinsichtlich ihres Potenzials als auch ihrer Grenzen untersucht werden. Generell könnte die Weltgemeinschaft den Wunsch äußern, beträchtliche Ressourcen dahingehend einzusetzen um zu begreifen, wie Wirtschaftsmodelle entstehen, die auf Prinzipien kollektiver Treuhandschaft, Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit aufbauen und wie diese an die Bedürfnisse unterschiedlicher Gemeinschaften angepasst werden können.

Die Kräfte des menschlichen Geistes freisetzen

7    In Gesellschaften überall auf der Welt ist der Mangel an materiellem Wohlstand ein Hindernis dafür gewesen, qualifizierte Lehrer anzuziehen, auszubilden und zu halten sowie pädagogische Einrichtungen aufzubauen und zu bewahren. Die Agenda 2030 betont den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur als Mittel, Bildung für alle bereitzustellen. Während gute Bildung bis zu einem gewissen Grad von einem Zustrom materieller Ressourcen abhängt, zeigt die Erfahrung vieler Bahá’í-Gemeinden an der Basis, dass selbst in den entlegensten und am meisten von Armut geplagten Gegenden der Welt ein Reichtum menschlicher Ressourcen zu finden ist, der mit Zeit, Achtsamkeit und weise eingeteilten materiellen Mitteln gedeihen kann.

8    Wenn eine Gemeinschaft die Ressourcen, die sie besitzt, einschätzt (z.B. die Fähigkeit Einheimischer, Herausforderungen zu erkennen und über Lösungswege zu beraten; die Freigebigkeit der Gemeindemitglieder, Zeit, Fähigkeit und Materialien beizusteuern, um einfache Gebäude zu errichten, und andere Maßnahmen), können Einschränkungen den Weg für Möglichkeiten frei machen. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die Einleitung eines Erziehungs- und Bildungsprozess, dessen Ziel es ist, den vollen Umfang menschlicher Fähigkeiten freizusetzen, nicht so lange verzögert werden muss, bis eine starke Infrastruktur eingerichtet worden ist. Qualitativ hochwertige Bildung erfordert es, den gesamten Bildungsprozess im Auge zu haben – die Fortbildung der Lehrer, die Auswahl oder Entwicklung entsprechender Curricula, die Schaffung eines Umfelds, das dem Lernen zuträglich ist, und das Engagement der Gemeinschaft, innerhalb derer sich der Lernprozess entfaltet. Diese verschiedenen Dimensionen können bis zu einem gewissen Grad durch materielle Ressourcen ergänzt und gestärkt werden. Aber entscheidender ist sicherzustellen, dass Lehrer und Lernende in einem Prozess einbezogen sind, der die Fähigkeit aufbaut, die Kräfte des menschlichen Geistes freizusetzen.

9    Der Geist des Menschen – der gewissermaßen als Ansammlung von Begabungen gesehen werden kann, die die Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden, einschließlich des menschlichen Verstandes – hat die Fähigkeit zu verstehen, zu lieben und zu wollen. Er ist eine Kraft, die allzu lange unterschätzt wurde; dadurch wurde die Menschheit einer nie versiegenden Quelle von Wohlstand beraubt. Seine Kräfte freizusetzen erfordert eine Erziehung und Bildung, die Kindern dabei helfen würde, jene Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die für beides notwendig sind: ihren Charakter zu wandeln und ein produktives Leben zu führen. Dies würde die Beschäftigung mit Literatur und Künsten einschließen, sowie wissenschaftliches Training, die Beherrschung technischer Fertigkeiten, die Fähigkeit, sich an individuellen und kollektiven Entscheidungsprozessen zu beteiligen, und die Befähigung, Bedürfnisse zu erkennen und über Lösungswege zu beraten. In dem Maße, wie sich ihre Fähigkeiten schrittweise entwickeln und in der Gemeinschaft zum Ausdruck kommen, entfalten sich jene Künste, Wissenschaften, Innovationen, Philosophien und Ethiklehren, von denen Kultur abhängt.

Die Welt neu erschaffen

10        Die Unfähigkeit, Frauen und Mädchen soziale Sicherung in jeglichem Lebensabschnitt zu bieten, ist nur eines der Symptome einer nicht mehr zeitgemäßen Gesellschaftsordnung. Dies macht es erforderlich, dass die derzeitige Ordnung durch Politikwandel, durch Inkraftsetzen gerechter Gesetzgebung und durch Maßnahmen, die die extremen Ungleichheiten abbauen, an ihre Grenzen geführt wird. Jedoch werden sich diese Veränderungen, obwohl sie notwendig sind, als unzureichend erweisen, neue Lebensmuster hervorzubringen, die allen Menschen erlauben zu gedeihen. Wenn man bedenkt, dass viele der gesellschaftlichen Systeme und Strukturen gerade dafür konzipiert wurden, Vorherrschaft und Ungleichheit zu stärken, müssen bedeutende Ressourcen auch dahingehend geleitet werden, wirksame Regierungs-, Bildungs- und Wirtschaftsmodelle kennenzulernen, die sich an einem völlig neuen Set von Prinzipien orientieren, nämlich:  dass die Menschheit eine ist, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind, dass die aus der Gemeinschaft entstehenden Kräfte durch Kooperation und Gegenseitigkeit freigesetzt werden können, und dass der Fortschritt der Menschheit maßgeblich durch die umfassende Beteiligung aller Menschen bei der Neugestaltung der Welt gestärkt wird.


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Quelle: https://www.bic.org/sites/default/files/creating_the_world_anew_bic_csw63_statement_2.pdf    

https://www.bic.org/statements/creating-world-anew-leaving-no-one-behind

Übersetzung ins Deutsche: Bahai-Frauen-Forum e.V.