Eine Erklärung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde zur 61. Sitzung der Kommission für soziale Entwicklung

Beschäftigung und mehr: Die Fähigkeiten Aller als Beitrag für die Gesellschaft nutzen

NEW YORK, 12. Februar 2023

Die Art der Arbeit wird sich in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich dramatisch verändern. Es ist zu erwarten, dass durch künstliche Intelligenz, Automatisierung und Digitalisierung eine große Zahl von Arbeitnehmern ersetzt und möglicherweise ganze Kategorien von Arbeitsplätzen überflüssig werden. Doch diese Werkzeuge haben das Potenzial, die Grenzen menschlichen Handelns erheblich auszudehnen. Die Vorstellungen davon, was es bedeutet, soziales Wohlergehen zu fördern, müssen daher erweitert und weiterentwickelt werden. Formale Beschäftigung ist eine Möglichkeit, wie Menschen zum Allgemeinwohl beitragen können, und traditionelle Entlohnung ist ein Weg, die Grundbedürfnisse zu decken. Aber dies sind bei weitem nicht die einzigen Modelle, mit denen die Gesellschaft von den Talenten und Fähigkeiten der Einzelnen profitieren kann. Ein weitaus umfassenderes Konzept ist erforderlich für die vielen Arten von Beiträgen, die eine blühende Gesellschaft fördern, sowie praktische Mittel, um sie zu unterstützen. Das Ziel müssen Gesellschaften sein, die effektiv auf die Fähigkeiten aller ihrer Mitglieder zurückgreifen.

            Dass die diesjährige Sitzung der Kommission für soziale Entwicklung den Schwerpunkt auf die Schaffung produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle als Mittel zur Überwindung von Ungleichheiten legt, kann ein starker Impuls für dieses Ziel sein. Das Fehlen einer soliden wirtschaftlichen Basis, die alle mit dem Lebensnotwendigen versorgen kann, ist ein schwerwiegendes Hindernis für den Fortschritt einer jeden Bevölkerung. Gleichzeitig zeigt die Geschichte, dass Erwerbstätigkeit allein nicht immer die Gleichberechtigung fördert. So gab es in vielen Ländern Zeiten, in denen hohe Beschäftigungsquoten mit einer zunehmenden Ungleichheit einhergingen. Die Überlegungen der Kommission zu Berufstätigkeit und Arbeit müssen daher im Lichte des weitaus umfassenderen Ziels erfolgen, Gesellschaften zu fördern, in denen alle Menschen gleich wertgeschätzt werden und alle die Möglichkeit erhalten, ihren Teil zum kollektiven Wohlstand beizutragen. Letztlich benötigen wir ein Wirtschaftssystem, das sich weigert, die Einen zum Nutzen der Anderen auszubeuten – ein System, in dem die Würde aller anerkannt wird und die Bedürfnisse aller erfüllt werden.

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            Fortschritte auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft erfordern eine breit angelegte Erweiterung der sozialen und moralischen Kompetenzen, zusätzlich zu den technischen Fertigkeiten. Die tatsächlichen Auswirkungen von Fähigkeiten werden nicht nur durch das Potenzial einer Person bestimmt, Ziele zu erreichen, sondern auch durch das Wesen der Ziele, die sie oder er verfolgt. Fertigkeiten, die durch höhere Bildung erworben werden, können beispielsweise dazu beitragen, ehrenwerte Vorhaben voranzutreiben, sie können aber auch dazu genutzt werden, von korrupten und ausbeuterischen Systemen zu profitieren. Um gerechtere Gesellschaften zu schaffen – und nicht nur geschicktere Navigatoren in ungleichen Gesellschaften -, muss der Aufbau von Fähigkeiten sowohl als normatives und moralisches wie auch als wirtschaftliches und politisches Vorhaben angegangen werden. Einzelpersonen und Gemeinschaften müssen ihre Kapazitäten ausbauen, um beispielsweise eine gemeinsame Vision und ein gemeinsames Engagement verschiedener Beteiligter zu entwickeln oder um die Hauptursachen der Herausforderungen zu erkennen und wirksame Antworten zu finden. Sie müssen in der Lage sein, Qualitäten wie Vertrauenswürdigkeit, Bereitschaft zu gegenseitiger Unterstützung, Verpflichtung zu Wahrheit und Verantwortungsbewusstsein nachhaltig zu vermitteln – Bausteine einer stabilen sozialen Ordnung.

            Wenn man von den Zielen spricht, auf die Kompetenzen ausgerichtet werden sollen, gelangt man in den Bereich von Werten und Prioritäten. Was ist der Zweck von Erwerbstätigkeit? Welche Art von Leben trägt zu menschlicher Entfaltung bei? Welche Art von Gesellschaft wollen wir gemeinsam schaffen? Dies sind Fragen, denen Unternehmen und Regierungsinstitutionen oft aus dem Weg gegangen sind, indem sie sich stattdessen auf Verfahrensweisen zu Effizienzsteigerung oder Expansionsmöglichkeiten konzentriert haben. Doch Ideologien, die dem Gemeinwohl schaden – Ideologien, die Egoismus rechtfertigen, Ausbeutung belohnen, Gleichgültigkeit entschuldigen oder den Konsum verherrlichen und damit Ungleichheit schüren – werden weltweit ohne Vorbehalt oder Entschuldigung aktiv gefördert. Wenn es das Ziel ist, die gesellschaftliche Ungleichheit zu verringern, dann muss die Gesellschaft mit Einstellungen, Eigenschaften und Gewohnheiten durchdrungen sein, die dieses Ziel bewusst fördern.

            Eine Bewegung in diese Richtung erfordert eine gründliche Neubestimmung dessen, was als „Arbeit“ verstanden wird, einschließlich der Art und Weise, wie verschiedene Formen von Arbeit bewertet werden. Die Tatsache, dass einige Berufe mit einer üppigen Entlohnung verbunden sind, während andere, die für das gesellschaftliche Wohlergehen ebenso unverzichtbar sind, nur einen Hungerlohn erhalten, offenbart tiefsitzende Verzerrungen im Gesellschaftsvertrag. Solche Widersprüche müssen endgültig aufgelöst werden, wenn das volle Potenzial einer Gesellschaft freigesetzt werden soll und eine wirklich gerechte Sozialordnung in greifbare Nähe rücken soll.

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            Jeder Mensch wird mit Begabungen und Fähigkeiten geboren. Die Vorstellung, dass gesellschaftlicher Fortschritt davon abhängt, dass diese Fähigkeiten weiterentwickelt und auf konstruktive Ziele ausgerichtet werden, ist allgemein anerkannt. In der Praxis werden jedoch viele Bevölkerungsgruppen in einem ganz anderen Licht gesehen und entsprechend behandelt – beispielsweise als Opfer, die Dienstleistungen benötigen, oder als Probleme, die gelöst werden müssen. Solche Annahmen können Fähigkeiten verschleiern, Gemeinschaften entmachten und kontraproduktive Abhängigkeitsstrukturen verstärken.

            Zu behaupten, dass alle Menschen über Fähigkeiten verfügen, bedeutet nicht, eine Vielzahl von sehr realen Herausforderungen zu leugnen. Viele Fähigkeiten sind noch verborgen und müssen durch entsprechendes Training und Bildung weiterentwickelt werden. Strukturelle Hindernisse und Vorurteile müssen beseitigt werden. Es müssen auch praktische Möglichkeiten geschaffen werden, damit eine große Zahl von Menschen ihren Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft leisten kann. Die Rolle des Staates als Verwalter und Hüter des Gemeinwohls ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Wirtschaftliche und politische Instrumente wie Steuerpolitik, Genehmigungsvorschriften, Arbeitsnormen und andere rechtliche Strukturen müssen auf das übergeordnete Ziel ausgerichtet werden, die in der Bevölkerung vorhandenen Fähigkeiten zu entwickeln und zu nutzen – und nicht nur Dienstleistungen zu erbringen, so notwendig das auch sein mag. Einfach ausgedrückt: Staatliches Handeln sollte sich darauf konzentrieren, die Fähigkeit von Einzelnen und Gemeinschaften, zum Fortschritt der Gesellschaft beizutragen, zu fördern und freizusetzen.

            Es werden unterschiedliche Arten von Unterstützung und Reformen erforderlich sein, um erfolgreiches Engagement verschiedener Gruppen oder Menschen in bestimmten Lebenssituationen zu erleichtern – unabhängig davon, ob es entlohnt wird oder nicht. Damit die Gesellschaft beispielsweise in vollem Umfang von den Beiträgen der Frauen profitieren kann, müssen die gesellschaftlichen Institutionen die Sorgearbeit aller Mitglieder der Gesellschaft anerkennen und erleichtern – nicht zuletzt durch Konzepte für Eltern- und Familienpflegezeit sowie durch betriebliche und gesellschaftliche Normen, die Elternschaft und Kindererziehung sowohl bei Vätern als auch bei Müttern begrüßen. Freiwillige, die sich für einen bestimmten Zeitraum in den Dienst der Gemeinschaft stellen wollen, wie z. B. junge Menschen, die ihr Studium abschließen, oder ältere Menschen, die sich nach einer Vollzeitbeschäftigung weiter engagieren wollen, können zwar möglicherweise für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen, brauchen aber eventuell auch ein gewisses Maß an Unterstützung, um ihre Dienste anbieten zu können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die persönliche Entwicklung des Einzelnen und der kollektive Fortschritt der Gesellschaft naturgemäß Hand in Hand gehen; beide sind miteinander verknüpft, und Bemühungen, das eine zu fördern, verlangen, dass früher oder später auch dem anderen Aufmerksamkeit geschenkt wird.  

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Dem Staat kommt eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, Bedingungen zu schaffen, die der Entfaltung konstruktiven Handelns Raum geben, nicht zuletzt durch Bemühungen, eine produktive, existenzsichernde Erwerbstätigkeit zu schaffen. Gleichzeitig ist die Freisetzung von Kapazitäten sowohl ein „horizontaler“ als auch ein „vertikaler“ Prozess. Eine Person trägt teilweise dadurch zum Fortschritt bei, indem sie anderen hilft, ihr eigenes Potenzial zu verwirklichen. Einzelpersonen stärken andere Einzelpersonen; Gemeinschaften stärken andere Gemeinschaften. Wenn sich eine solche Denk- und Vorgehensweise in einem Gebiet durchsetzt, wird der Fortschritt zunehmend als das Ergebnis gemeinsamer Interaktionen zwischen staatlichen Stellen, lokalen Gemeinschaften und einzelnen Akteuren betrachtet, die sich alle sowohl um die Qualität ihres eigenen Handelns als auch um die Unterstützung der Wirksamkeit der Anderen kümmern. Dies ist keine Wunschvorstellung oder Spekulation, sondern ein Weg, dessen Anfänge die Bahá’í-Gemeinden in verschiedenen Stadtteilen und Dörfern auf der ganzen Welt zu beobachten beginnen. Es handelt sich um eine konkret spürbare Bewegung, deren Merkmale erforscht werden können und deren Dynamik in praktisch jedem Kontext weiterentwickelt werden kann, in dem sich die Beteiligten der gegenseitigen Unterstützung, der universellen Beteiligung und der Förderung des Gemeinwohls verpflichtet fühlen.

            Alle als potenzielle Protagonisten für die Verbesserung der Gesellschaft zu sehen, fördert in hohem Maße – sowohl prinzipiell als auch in der Praxis – die Gleichstellung und moralischen Kompetenzen. Wenn das Handeln darauf basiert, dass jeder Mensch und jede Gemeinschaft eine Quelle an Fähigkeiten und Möglichkeiten für einen konstruktiven Wandel ist – unabhängig von Reichtum, Bildung, sozialem Status oder anderen Merkmalen –, dann sind die Unterstellungen von Überlegenheit und Unterlegenheit, die unzählige Ungleichheiten aufrechterhalten, zurückzuweisen. Produktive, existenzsichernde Erwerbstätigkeit und menschenwürdige Arbeit sind für das Funktionieren der Gesellschaft von zentraler Bedeutung – nicht nur in Bezug auf die unmittelbaren Ergebnisse, die produzierten Waren und erbrachten Dienstleistungen, sondern auch in Bezug auf den Lebensunterhalt, den sie sichern, und auf die Rolle, die sie als Quelle der Identität, der Zielsetzung sowie der Entwicklung und Entfaltung persönlicher Begabung spielen. Die sich wandelnde Arbeitswelt bietet eine wertvolle Gelegenheit, Fortschrittskonzepte zu überdenken und die Wirtschaftsstrukturen so zu gestalten, dass sie den heutigen Bedürfnissen gerecht werden. Dies ist die Aufgabe, die vor uns liegt, und wir sollten uns auf dem Weg zu dieser Vision zunehmend auf die Fähigkeiten und Beiträge der gesamten menschlichen Familie stützen.